35. Mord (1919 - 1920)

Gemäß DSGVO geänderter Text 
Im Oktober 1919 wurde Gehlberg durch ein schreckliches Ereignis aus seiner beschaulichen Ruhe gerissen. Verschiedene Einwohner „machten Färberig“, d. h. sie hackten sich Reisig unweit des Weges zum Bettelmannskopf zu Recht. Da entdeckten sie unter einem dort bereits liegenden Reisighaufen die blutige Leiche eines fremden Mannes. Die Nachricht ging wie ein Lauffeuer durch den Ort. Ein Gehlberger, der Friedrich Schmidt, erklärte, dass er den Toten kenne. Es sei ein gewisser Carl Backhaus aus Arnstadt, Fleischer von Beruf. Schmidt hatte mit ihm im gleichen Zimmer des Arnstädter Krankenhauses gelegen und bei dieser Gelegenheit auch Namen von Personen erfahren, mit denen Backhaus bekannt war. Der „Edgar“ (Hartwig, damals noch ein Schuljunge, der sich wegen einer Knochenkrankheit schon bei geringen Belastungen häufig die Beine brach [insgesamt 17 Mal] und deshalb Zeit seines Lebens einen viel zu kurzen Unterkörper behielt) rief sofort aus: “Das war niemand anderes als der Seewalter!“ Die Mordkommission stellte den Leichnam sicher und protokollierte die Aussagen des Friedrich Schmidt, in denen der Name „Seewalter“ ebenfalls vorkam. Die Ermittlungen der Kriminalpolizei führten dazu, dass der Tat dringend verdächtig erschienen:
    - Gustav G., Molkereigehilfe aus Scheibe, bisher nicht vorbestraft
    und
    - Walter W. aus Gehlberg („Seewalter“ genannt), geb. am 02.09.1891, vorbestraft.

G. wurde am 20.10.1919 in Wandsbek, W. in der Nacht vom 21. zum 22.10.1919 auf Gut Goddersdorf bei Neustadt in Holstein verhaftet.

Nun hatten die Gehlberger Gesprächsstoff! W. war uneheliches Kind einer auswärts arbeitenden Hausangestellten Gehlberger Herkunft, in Gotha geboren. Zwar hatten sich Verwandte seiner angenommen, eine zielbewusste häusliche Erziehung genoss er aber nicht. Schon früh zeigten sich bei ihm Anzeichen moralischer Gefährdung. Hauptsächlich von Frauen nebenbei betreut und ohne die konsequente Führung durch ein Elternhaus, lernte er rasch, seine zunächst geringfügigen Verfehlungen entweder zu vertuschen oder in zunehmendem Maße dreist abzustreiten. Da niemand daran interessiert war, ihn zu halten, verließ er bald nach seiner Schulentlassung den Ort und hielt sich in verschiedenen Gegenden Deutschlands auf. Was er damals trieb, war nicht zu ergründen. Man geht aber wohl nicht fehl in der Annahme, dass er nunmehr endgültig auf die schiefe Bahn geriet, die sein Vorstrafenregister ausweist.
Nach dem 1. Weltkrieg war W. Gelegenheitsarbeiter, widmete sich aber hauptsächlich dem Viehhandel und der Pferdemetzgerei. Dabei benahm und kleidete er sich wie ein verkommener Cowboy. Ehe er die erhandelten Klepper abschlachtete, sprengte er wie ein Wilder auf ihnen durch das Dorf. Flößte der abstoßende und brutale Mensch den Frauen Furcht und vielen Leuten Abscheu ein, so waren doch alle froh, wenn er in jenen schlechten Zeiten Fleisch in den Ort brachte. Die oft dunkle Herkunft des raren Nahrungsmittels war dabei ziemlich gleichgültig.
Seinen Namen „Seewalter“ erklärte W. damit, dass er zu See gefahren sei. Das stimmt aber nicht. In Wirklichkeit handelt es sich um die Verdrehung des Namens „Waldersee“ und führte auf die nationalistische Stimmungsmache der Kaiserzeit anlässlich des Boxeraufstandes zurück. (Graf Waldersee war der Führer des deutschen Kontingents der Interventionstruppen. Als der Kampf für diese ziemlich aussichtslos war, rief man die deutsche Abteilung mit den Worten „the Germans to the front“ zum Sturm, der dann auch den ungerechten Krieg zugunsten der Interventen entschied.)
Bei Kinderspielen der Vorkriegszeit war der „Boxeraufstand“ eine Zeit lang Mode gewesen und die Verdrehung des Namens Waldersee dabei ziemlich häufig. Nicht nur W. behielt den umgekehrten Namen des Grafen auch im späteren Leben bei.

Der Prozess gegen die Mörder fand in Gotha statt. Er ergab folgenden Tatverlauf:
Der 26-jährige Fleischer Carl Backhaus aus Arnstadt wurde am 11.10.1919 von seinem vorgeblichen Freund W. durch Vorspiegelung der Möglichkeit eines Viehkaufs veranlasst, abends mit ihm per Bahn nach Gehlberg zu fahren. An der Fahrt nahm außerdem der ehemalige Molkereigehilfe Gustav G. aus Scheibe teil. Dieser war in Arnstadt einige Zeit W. Quartiergenosse gewesen, hatte ihm seinen Revolver verkauft und war auch danach noch gelegentlich mit ihm zusammengekommen. W. führte die Beiden bei Dunkelheit vom Bahnhof nach dem Ort, machte aber einen Umweg durch den Wald in Richtung Bettelmannskopf. Etwa 150 Meter vor dem ersten Haus Gehlbergs ermordeten und beraubten W. und G. den Backhaus. Sie erbeuteten eine Taschenuhr und etwa 500 Reichsmark, wovon G. 220 RM bekam. Da beide in Arbeit standen, konnte wirtschaftliche Not nicht die Triebfeder des Verbrechens gewesen sein.
Der genaue Hergang der Mordtat konnte allerdings nicht mit letzter Sicherheit geklärt werden. Die Aussagen der beiden Angeklagten wichen voneinander ab. G. gab zunächst an, W. habe den Backhaus. in den Rücken geschossen, sich dann auf ihn gesetzt oder gekniet und ihm mit dem Revolvergriff geschlagen. W. hingegen bezichtigte den Molkereigehilfen der Tat. G., der schwer an Lungen- und Kehlkopftuberkulose litt, musste während der Ermittlungen in das Krankenhaus überwiesen werden. Zur Hauptverhandlung wurde er todkrank auf einer Bahre in den Gerichtssaal getragen. Hier sagte er aus, dass er selbst von hinten auf Backhaus. geschossen habe. Als dieser nun seinen vermeintlichen Freund um Hilfe rief, habe er sich auf ihn gesetzt und dem Unglücklichen den Mund zugehalten. Er selbst (G.) habe dann mit dem Messer auf Backhaus eingestochen. Die Richtigkeit dieser Aussagen konnte nicht überprüft werden, weil G. nicht im Stande war, der Verhandlung zu folgen und aus dem Saal getragen werden musste. Er starb 20 Tage danach im Landeskrankenhaus Gotha.
Das Gericht nahm die Aussage des G. zur Kenntnis, kam aber zu der (wahrscheinlich auch zutreffenden) Ansicht, dass Walter W. der geistige Urheber, Anstifter und Organisator des Mordes war. Es hielt den G. allein der Tat nicht fähig und betrachtete ihn als willensschwaches und durch Furcht gefügtes Werkzeug. Deshalb verurteilte es den W. am 06.09.1920 wegen Mordes in Tateinheit mit schwerem Raub zur Todesstrafe und den Kosten des Verfahrens. Sowohl eine angestrengte Revision als auch Bemühungen des Verurteilten, wegen einer Lues-Erkrankung aus dem Jahre 1913 als nicht zurechnungsfähig erklärt zu werden, wurden verworfen. Auch sein von frömmlerischen Phrasen triefendes Testament, in welchem er alle Schuld auf die Kommunisten abwälzen wollte, mit denen er gar nichts zu tun gehabt hatte, führte nicht zu einer Begnadigung. Das Urteil an ihm wurde in Untermaßfeld vollstreckt, wozu extra eine Guillotine dorthin gebracht werden musste. Keiner seiner Angehörigen legte Wert auf eine Freigabe des Leichnams zum Zwecke einer Bestattung.
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