Gemäß der DSGVO geänderter Text
In der Zeit zwischen dem Bahnbau und dem 1. Weltkrieg blühte Gehlberg rasch auf. Bereits erwähnt wurden die Entwicklung der Glasindustrie, der Bau der Wasserleitung und Kanalisation, die Zunahme des Fremdenverkehrs usw.
Die seit dem 16.8.1881 bestehende Postagentur im Hause Moritz Greiner erhielt 1883 den ersten Telefonanschluss des Ortes. Fracht und Post mussten noch aus Plaue bzw. Elgersburg besorgt werden.
Nach und nach wurden auswärtige Beispiele in Gehlberg nachgeahmt. So gründeten Wendelin Hartwig, Bernhard Fleischhauer und Alfred Heinz im Jahre 1885 einen Turnverein. ⇒(EA1885-001)
Bernhard Fleischhauer machte sich 1886 selbständig und eröffnete einen Betrieb (Arlesberger Str. 21; Anm. R. Schmidt) ⇒(EA046) zur Herstellung von Alkohol-, Aräo- und Saccharimetern. Er folgte damit der allgemeinen Entwicklung der Glasverarbeitung im Ort, nämlich Produktion von Artikeln mit geringem Materialaufwand aber hoher Lohnintensität und großem Anteil wissenschaftlicher Erkenntnisse.
Der Schmied Theodor Fleischhauer (1861 – 1925), der bisher im Eichhorns-Haus (Hauptstraße 10) ⇒(EA047) gearbeitet hatte, baute sich 1887 eine Werkstatt und im folgenden Jahr ein Wohnhaus dazu (Hauptstraße 12). ⇒(EA048)
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Als originelles Beispiel für den eigentümlichen Humor der Gehlberger sei hier angeführt, dass im Januar 1899 hiesige Männer einen „nützlichen Bartverein“ gründeten. Ursprünglich sollte der natürliche männliche Schmuck nur der bevorstehenden Fastnachtzeit wegen tüchtig sprießen. Da das Resultat nach so kurzer Zeit nur sehr dürftig sein konnte, sahen sich die Bart-Enthusiasten veranlasst, ihren Verein fortbestehen zu lassen.
Der 1889 eröffnete unbeschränkte Güterverkehr auf der Eisenbahn machte endlich den Weg für das Vorankommen der hiesigen Wirtschaft frei. Der Beginn des Personenverkehrs öffnete 1891 Gehlberg endgültig für den Fremdenverkehr.
1893 wurde die Fahrstraße zum Geragrund fertig gestellt. Die alte Gräfenrodaer Straße, meistens als „alter Mühlweg“ bezeichnet, war für den angewachsenen Verkehr nicht mehr tragbar. Wegen ihrer starken Steigung mussten schwere Geschirre von 4 Pferden gezogen werden. Das untere Mühlwegende führte ursprünglich geradlinig vor dem „Felsen“ in das Tal hinab. Es wurde durch die Eisenbahntrasse unterbrochen. Die neue Fahrstraße legte man nach der Sprengung des Felsens so an, dass sie in einem Tunnel unter dem Bahnkörper hindurch geführt werden konnte. Einige Zeit begnügte man sich mit dieser Lösung. Dann aber führte man die neue Straße am Anfang der Steilstrecke des alten Mühlwegs vorbei geradlinig weiter, überwand die Steigung am Schlagtal durch einige Kurven und stieß am Arlesberger Weg auf die Dorfstraße. Die so geschaffene Fahrstraße ist nicht so steil wie der am Eichhorns-Haus beginnende Mühlweg. Außerdem ist sie breiter und gestattet das Überholen und Begegnungen von Lastfahrzeugen.
1895 zählte Gehlberg 612 Einwohner. 95 Haushaltungen betrieben Landwirtschaft, meistens als Nebenerwerb. Der Umfang der Produktion wuchs ständig. Schon 1896 musste für die in Gehlberg gefertigten Glasinstrumente ein Eichamt gebaut werden (Mühlweg 10). ⇒(EA049)
Die Firma Gundelach produzierte neben Gebrauchsglas, Glühlampen, medizinischen Geräten und solchen für wissenschaftliche Laboratorien auch Röntgenröhren (mit denen sie 1904 auf der Weltausstellung in St. Louis einen Grand Prix erringen konnte).
Ebenfalls 1896 gründete Mühlenwirt Ernst Möller einen Männergesangverein und – zwei Jahre später – einen Ortsverschönerungsverein.
1897 entstand in der „Gass“ (Arlesberger Straße 10) ⇒(EA050) das Schuhmacherlädchen des Rudolf Schmidt aus Benshausen. Trugen bisher nur die Nachkommen des Schumachers Markus Wiegand trotz anderer Erwerbstätigkeiten alle den Beinahmen „Schuster“, so sollten zukünftig auch die Abkömmlinge des Rudolf Schmidt diese Bezeichnung bekommen.
Am 5.11.1897 brannte, wie schon erwähnt, die alte Glashütte. 1898 wurde sie abgerissen. Bei Schilling und Gundelach entstanden moderne Schmelzöfen. Außerdem ließen die Gundelachs ein Kontor für den ständig wachsenden Schriftverkehr ihres Unternehmens errichten.
Auch die private Bautätigkeit nahm zu. Allein 1899 entstanden 5 neue Wohnhäuser und begann der Schulneubau. Die Schule und das dazugehörige Wohnhaus für 2 Lehrer wurden im Jahre 1900 eingeweiht. In die alte Schule (Hauptstraße 50) ⇒(EA051) zog der Fleischer Heinz ein. Er hatte früher neben seiner Tätigkeit bei der Fa. Emil Fleischhauer mit Fleisch- und Wurstwaren gehandelt, die er von auswärts herbei holte. Dann widmete er sich ausschließlich der Metzgerei und betrieb bis zu dem erwähnten Umzug einen kleinen Laden in der „Gass“ (Arlesberger Straße 19). ⇒(EA052) Im gleichen Jahr gründete Adolf Eichhorn in der ehemaligen Schmiede (Hauptstraße 10) ⇒(EA053) eine Werkstatt zur Fabrikation chemischer Messgeräte aus Glas.
1901 wurden 4 neue Wohnhäuser sowie der Speisesaal und das Logierhaus auf der Schmücke gebaut.
1903 ließ Schilling auf dem geräumten Glashüttenplatz das Postamt errichten. An die Stelle des „Postmoritz“ trat der Verwalter Herbig. Einer der Postangestellten war der Sattler und Polsterer Wilhelm Seidenstricker. Er heiratete im folgenden Jahr, schied aus der Post aus und eröffnete eine eigene Werkstatt (Hauptstraße 13). ⇒(EA1908-001)
Ebenfalls 1904 entstanden das Kesselhaus bei Schilling sowie der Pferdestall und die Kutscherwohnung bei Gundelach. Die Arlesberger Straße erhielt Kanalisation.
Im Jahre 1905 ließen sich die Fabrikanten Gundelach, Schilling, Hartwig und Fleischhauer die ersten privaten Telefonanschlüsse des Ortes legen.
Die Hauptstraße wurde auf der nach dem Zahmen Geratal gelegenen Seite mit Trottoir versehen.
Der Malermeister Emil Böttner baute sich ein Haus (Hauptstraße 25). ⇒(EA055)
Fleischer Heinz bezog das freigewordene Haus des Malers (untere Hälfte des ehemaligen Doppelhauses, in dessen oberer Hälfte sich der „Hirsch“ befindet) und richtete darin einen Fleischerladen ein. Seine Tochter heiratete später den Fleischer Ernst Anschütz (1884 – 1948), der das Geschäft weiter führte. ⇒(EA056)
Die alte Schule pachtete nun der Fleischer Rudolf Möller. ⇒(EA057) Die aus dem bisher von Böttner bewohnten Hause stammende Klara Beißler, geb. Machalett, die mit ihrem Mann aus Amerika zurückgekehrt war, ließ mit den Ausschachtungsarbeiten für ein Fremdenhotel beginnen. Dieses („Daheim“, Ritterstraße 16) ⇒(EA058) wurde schon 1906 fertig gestellt und noch im gleichen Jahr ein Saal angefügt. In dem neuen Hotel herrschten keine erfreulichen Zustände. Der Schiffskoch Beißler und seine Frau zankten sich oft. Auch hatte er eigenartige Praktiken in seiner Küche. Das Personal war nicht erbaut davon, wenn er übriges flüssiges Fett in die zum Reinemachen bestimmten Eimer kippte. Eines Tages fand die mehr als resolute Frau Beißler einen Zettel mit der lakonischen Mitteilung, dass ihr Mann auf dem Wege zurück nach Amerika sei. Mit einem „Geschäftsfreund“ bewirtschaftete sie ihr Hotel so wenig erfolgreich weiter, dass es am 01.05.1909 an Franz Heimbürger (1877 – 1956) verkauft werden musste.
(Abb. 058) Hotel "Daheim", errichtet 1906 ⇒(EA059) |
Schilling ließ die schon seit einiger Zeit nicht mehr benutzte „Gipshütte“ abreißen und ein geräumiges Wohnhaus für seine Angestellten einige Meter vor deren Platz an der Ritterstraße (10) ⇒(EA060) errichten. In der hölzernen „Gipshütt“ hatte der August Heinz („Schorsch“) jahrelang Gips für die Glashütte gebrannt.
1906 kamen etwa 700 Erholungssuchende nach Gehlberg.
Im folgenden Jahr ließ sich auch Gundelach eine Kesselanlage und ein Maschinenhaus errichten. Von Gräfenroda nach Gehlberg wurde eine Gasleitung gelegt. In den Häusern verschwanden die Petroleumfunzeln. Die Dorfstraßen wurden nun nachts durch 28 Gaslaternen erleuchtet.
Die Gemeinde zählte damals 1001 Einwohner. (Differenzen in den Zahlenangaben erklären sich daraus, dass man die Bewohner der Schmücke und des Langerbach nicht immer mitrechnete.)
Abb. 060 Kirmestreiben 1907 auf dem Mühlweg vor Wendelin Hartwigs Haus (Mühlweg 9) ⇒(EA061) |
Der Sattler Seidenstricker, der schon seit einiger Zeit neben seinem Handwerksbetrieb eine Andenkenbude aufgestellt hatte, ließ diese 1908 abreißen und baute stattdessen einen Laden in sein Haus ein. ⇒(EA1908-001)
Die rege Bautätigkeit hielt auch 1909 an. Allein in der Ritterstraße entstanden 5 neue Wohnhäuser. Der „Hirsch“ erhielt einen Saal.
1910 fanden sich Einwohner zu einem Wintersportverein zusammen. Im gleichen Jahre entstand ein zweiter Gesangverein. Die Reservisten der Armee mussten sich alljährlich in „Burg“ (Elgersburg) zur Kontrolle einfinden. Dabei wurde die patriotische Gesinnung etwas aufpoliert. Bei dem zunehmenden Einfluss sozialdemokratischen Gedankengutes erschien das der Militärbehörde dringend notwendig. Da die Reservisten auf dem Wege nach „Burg“ tüchtig Soldatenlieder sangen, beschlossen sie, einen Gesangverein „Germania“ zu gründen. Er wurde vom „Hüttenmöller“ (Hermann Möller, 1877 – 1936) geleitet und übte im Hotel „Daheim“.
Im folgenden Jahr zählte man 942 Kurgäste im Ort.
Der Maler Otto Schulz (1886 – 1964) gründete ein eigenes Malergeschäft.
Gemeinde und Forstverwaltung strebten danach, statt der alten Schmücker Straße eine breitere und weniger steile Straße bauen zu lassen. Teilstücke waren bereits angefangen (1894-1896 von der Güldenen Brücke bis zur Schmücke; Anm. R. Schmidt). Die neue Fahrstraße sollte nicht an der Kirche vorüber sondern in sanftem Bogen am „Ritter“ aufwärts führen. Moritz Greiner forderte aber für das Grundstück, auf dem sich sein Steinbruch ⇒(EA062) befand, einen hohen Preis. Da die Gemeinde diesen nicht zahlen wollte, musste sie auf den Kauf verzichten und die Straße steiler als geplant anlegen lassen, damit sie vor dem Steinbruch westwärts abbiegen konnte. So entstand die gefährliche Kurve am Ritter. Fertiggestellt wurde die neue Schmücker Straße in ihrer ganzen Länge erst nach dem 1. Weltkrieg.
Der Fleischer Rudolf Möller (1877 – 1953) baute schräg gegenüber der Post ein geräumiges Gebäude mit Schlachthaus und Laden (Elgersburger Straße 2) ⇒(EA063) und räumte danach die alte Schule.
1912 erlitt das Bürgertum bei den Wahlen eine beträchtliche Niederlage. Lehrer Müllich, seit 1904 Leiter des Männergesangvereins und Hermann Möller, Dirigent des Gesangvereins „Germania“ sowie der Blasmusik, wurden daraufhin durch den Kommerzienrat Gundelach so beeinflusst, dass sie ihre Ämter niederlegten. Den Posten Müllichs versah vorläufig Fritz Kühn, den Möllers Arthur Wagner. Die beiden Ausgeschiedenen waren aber so musikbegeistert, dass sie den Selbstausschluss nicht lange aushielten. Deshalb drückte sich Möller „zufällig“ im Hotel herum, wenn die „Germania“ sang, während Müllichs Schritte zum „Herzog Alfred“ führten, wenn dort Männergesang erscholl. Freilich ließen sich beide erst ein paar Mal bitten, um das Gesicht zu wahren – aber schließlich waren sie doch froh, dass man sie wieder haben wollte und ihnen auch ihre Ämter wieder antrug.
Abb. 059 Hausmusik in Gundelachs Villa v.l.n.r.: Lehrer K. Biemüller, Lehrer R. Müllich, Hüttenmeister H. Möller, Komm. Rat Eugen Gundelach |
Eine weitere Gaststätte entstand 1912 in Gehlberg. Albert Kühn schuf durch Umbau einer Scheune des „Schusters Fritz“ und einige Anbauten ein Café (Hauptstraße 19). ⇒(EA064) Zu seinem Leidwesen wurde ihm nicht gestattet, auch normales Bier auszuschenken. Der Gemeindevorstand war der Ansicht, dass die Zahl der Bierkonzessionen für die Einwohnerzahl des Ortes ausreichte. Kühn berief sich auf die zahlreichen Kurgäste, musste sich aber damit abfinden, nur die alkoholarme „Strobel-Blume“ (aus der Strobel-Brauerei Gräfenroda) verkaufen zu dürfen.
Bei dieser Gelegenheit wird deutlich, dass die früher übliche Verbindung von Brau- und Schankgenehmigung nicht mehr nötig war, weil das Bier preisgünstiger aus fabrikmäßig produzierenden Brauereien bezogen werden konnte.
Zwei Häuser nebenan etablierte sich der Bäcker Max Wirsing. ⇒(EA065)
Viel Aufsehen erregte der Verkauf des Greinerschen Hauses hinter der Dorflinde ⇒(EA027), von welchem schon im Zusammenhang mit der Gründung des ersten Konsums berichtet wurde. Der intelligente und weitgereiste Robert Konstantin hatte seinerzeit seine Hüttenanteile verkauft und sich als Glaskaufmann betätigt. Wegen eines schweren Gichtleidens musste er sich aber bald aus dem Erwerbsleben zurückziehen. Nach seinem Tod verteilte sich sein beträchtlicher Besitz unter die Kinder Edmund, Waldemar, Reinhold, Blanca und Malwine. Danach ging es bald abwärts mit dieser Linie des Greinerschen Geschlechts. Bald gehörte es nicht mehr zur „Prominenz“ des Ortes. Edmund starb 1909, seine Frau und Kinder wollten nach Amerika auswandern. Die Grundstücke der Greiners wurden nach und nach verkauft. 1912 kam das Haus an die Reihe, ein stattliches Gebäude, welches viele Interessenten fand. Ein Zellaer Bauunternehmer z.B. wollte zwischen dem Greiners-Haus und der alten Schule durch mehrere Neubauten eine Straße in Richtung Haselbrunn anlegen. Kauflustige für die geplanten Häuser hatte er genügend. Die Gundelachs hingegen wünschten gerade an dieser Stelle auf keinen Fall eine Straße. Max Gundelach hatte einmal geäußert, dass zwei konkurrierende Hohlglashütten in einem Dorf auf die Dauer undenkbar seien. Entweder müssten beide Betriebe eines Tages vereinigt werden – oder einer müsse so stark sein, dass er den anderen schließlich besiegen und übernehmen könne. Mit dieser Perspektive eines großen Betriebes, der die Schillingsche Schleiferei mit einschloss und sich über die Straße in der Schillingschen Hütte fortsetzte, trachteten die Gundelachs danach, einen Geländestreifen bis dorthin in die Hand zu bekommen. Sie überboten also das Angebot des Fritz Wiegand II von 32 000 Reichsmark für das Greinersche Haus, kauften es und ließen es 1913 abreißen. Bretter und Balken davon erwarb Leopold Hartwig (der „Pitzkanerich“) und verwendete sie 1914 zum Bau seines Hauses (Arlesberger Straße 1) ⇒(EA066). Da das Endziel der Gundelachs noch in weiter Ferne lag, errichteten sie auf dem frei gewordenen Gelände einen Tennisplatz für ihre Kinder ⇒(EA1914-001).
Abb. 064 Das stattliche Haus Robert Konstantin Greiners, 1913 von seinen Erben an die Gundelachs verkauft und von diesen abgerissen. ⇒(EA027) |
Gleichfalls im Jahre 1912 baute der „Schuster“ Rudolf Schmidt (1877 – 1942, auch „Helerü“ genannt, bisher Arlesberger Straße 10) ⇒(EA050) das Haus „Waldfrieden“ als Pensionshaus für Kurgäste (Hauptstraße 49) ⇒(EA067). Im Parterre eröffnete er einen Schuhladen.
Im Jahre 1913 wurde die Gehlberger Sanitätskolonne gegründet.
Besonders deutlich wird die Entwicklung jener Jahre, wenn man die Entstehung der heutigen Bergstraße und der Ritterstraße (eines vordem schmalen Hohlweges) betrachtet. Von 1906 bis einschließlich 1913, also in 8 Jahren, entstanden dort (außer anderen Gebäuden im Ort) die Häuser Bergstraße Nr. 4, 6, 12, 14, 16, 18, 20 und 22 sowie Ritterstraße 4, 6, 10, 12, 16, 18, 20, 22, 24, 26 u. 28. ⇒(EA069).
Das äußere Bild Gehlbergs wandelte sich aber nicht nur durch die zahlreichen Neubauten. Ursprünglich waren die meisten Gehlberger Häuser nur einstöckig. Seit Beginn des Fremdenverkehrs erhielten fast in jedem Jahr einige Gebäude ein zweites Stockwerk. In den meisten Fällen bekam es größere Fenster als das Parterre. Die durch Aufstockung erhöhten Häuser sind also leicht zu erkennen. Allerdings findet man auch einzelne Gebäude, bei denen die Fenster des Erdgeschosses größer als die des 1. Stocks sind. Hier wurden die zu winzigen Fensterchen des Parterres nachträglich erweitert und zwar großzügiger als die bereits ausreichend bemessenen Fenster des Obergeschosses. Bei der allgemein üblichen Fachwerkbauweise waren größere freitragende Längen, also sehr breite Fenster nicht möglich. Um trotzdem viel Licht in die Räume zu bringen, gab man mindest dem Wohnzimmer zwei oder drei direkt nebeneinander liegende normale Fenster, zwischen denen jeweils nur ein tragender Stempel stand. Links oder rechts des Wohnraumes, in vielen Fällen auch auf beiden Seiten, befand sich je eine kleine Kammer.
Zahlreiche Häuser besaßen einen Kniestock. Hierdurch hatten die Kammern des Obergeschosses abgeschrägte Wände. Eigentümlicherweise versah man dort das untere (also gerade) Wandstück häufig mit kleinen Fenstern, die direkt über dem Fußboden lagen. Noch kurioser sind um 45 Grad gedrehte, also auf einer Ecke stehende Fensterchen an den Stirnseiten mancher Häuser. Es heißt, dass diese Merkwürdigkeiten an solchen Häusertypen vorkamen, deren Errichtung mit finanziellen Erleichterungen für die Bauherren verbunden war, so dass diese die unpraktischen Eigenheiten der Konstruktion in Kauf nahmen.
Außer Neubauten und Aufstockungen gab es noch eine weitere Veränderung im Ortsbild, die schon Mitte des 19. Jahrhunderts begonnen hatte. Nur die begüterten Familien konnten sich früher sowohl die Dächer als auch die Seitenwände ihrer Häuser mit Schiefern beschlagen lassen. Die anderen Leute mussten sich mit Schindeldächern begnügen und ließen sich die Außenwände nur mit minderwertigeren Brettern bzw. Schwarten verschalen. Sogar das Kirchendach war bis zum Jahre 1859 nur mit Schindeln gedeckt gewesen. Nun wichen aber immer mehr Schwartenbretter an den Häuserwänden soliden Holzverschalungen mit Schieferbeschlag, zumindest an der Wetterseite. Verputzte Außenwände blieben relativ selten. Einige Häuser behielten zwar die Holzverschalung, jedoch aus gutem Holz mit Deckleisten und haltbarem Ölfarbenanstrich. Sie hoben sich als bunte Farbtupfen aus dem schwärzlichen Schieferblau der anderen Häuser hervor.
Hauptursache des Aufschwunges vor dem 1. Weltkrieg war die steigende Produktion. Aufschluss über die Vielfalt der in Gehlberg hergestellten Glasinstrumente erhält man schon bei Durchsicht allein des Gundelachschen Produktionskataloges:
- bakteriologische, biologische, chemische Destillations-, Gas- u. maßanalytische, physikalische, Schwefelbestimmungs-, Schwefelwasserstoff-, Vorlesungs-, Wasserhärte-Bestimmungs-, wissenschaftliche und Hittorfsche Apparate;
- Destillations-, Entbindungs-, Gasometer-, Koch-, Mess- u. Woulffsche Flaschen;
- Einnehme-, Einschmelz-, Probier- u. Reagenzgläser;
- bakteriologische, chemische, graduierende, Mess-, physikalische u. Präzisionsinstrumente;
- Erlenmeyer-, Koch- u. Messkolben;
- Spirituslampen; - Albuminimeter;
- Alkoholometer;
- Bytro-, Cremo-, Densi-, Hydro-, Kalori-, Mano-, Pykno-, Radio-, Sacchari- u. Vakuometer;
- Biege-, Einschmelz-, Kapillar-, Lymph-, Reagenz-, Röntgen-, Spektral-, Spiral-, Vakuum-, Verbrennungs- u. Zylinderröhren;
- Abdampf-, Kristallisier- u. Reibeschalen;
- Büretten;
- Eichgeräte;
- Exsickatoren;
- Filtrierstutzen;
- Flüssigkeitsmaße;
- Gefäße für flüssige Luft;
- Glocken;
- Hähne;
- justierte Messgeräte;
- Kochbecher;
- Lehrmittel;
- Luftpumpen;
- Mensuren;
- Mörser;
- Normalmaßgeräte;
- Pipetten;
- Retorten;
- Stäbe;
- Trichter;
- Vorlagen;
- Vorstöße;
- Wasserstrahlgebläse;
- Wasserstrahlluftpumpen;
- Zerstäuber;
- Zylinder.
Gundelach besaß eine Hütte mit:
- 1 Siemens-Regenerativofen auf Kohlebasis
- mit 12 offenen Häfen,
- dazu 5 Kühl- und Temperöfen
- und 3 Generatoren;
- ferner 1 Lampenbläserei,
- 1 Schleiferei mit 12 Werkstellen, Ätzerei, Sandgebläse,
- 1 kl. Kistenfabrik und
- 1 Dampfmaschine zur Versorgung mit Eigenstrom (50 PS).
Die Jahresproduktion betrug 700 000 (Gold-)Mark, die Belegschaftsstärke 120 Mann.
Abb. 061 Rückseite der Gundelachhütte mit angebauter Schleiferei (mit Sense Ernst Lapp) ⇒(EA070) |
Abb. 062 Gundelachs Kraftwagen CG (=Coburg-Gotha) Nr. 739 |
Der zweitgrößte Betrieb, Franz Schilling, beschäftigte weniger Arbeiter, besaß ebenfalls einen Ofen mit Regenerativfeuerung und 8 offenen Häfen sowie Schleiferei und Ätzerei.
Ein Teil des in beiden Hohlglashütten hergestellten Glases wurde weiter verarbeitet bei
Fa. Heinrich Hartwig
- Glasinstrumentenfabrik, 40 Arbeiter,
- Lampenbläserei, Schleiferei, Ätzerei,
- Sägewerk, Kistenfabrik.
- Kraftmaschinen: Gasmotor; Wasserkraft
- Produktion: chirurg. Instrumente, hauptsächl. Spritzen
Fa. Bernhard Fleischhauer
- Glasinstrumente, hauptsächlich Geräte zur Dichtebestimmung von Flüssigkeiten,
- 11 Arbeiter
Emil Fleischhauer
- Glasinstrumentenfabrik
Adolf Eichhorn
- 4 Arbeiter,
- Herstellung chem. Messgeräte
Darüber hinaus gab es im Ort noch Glasbläser, die ohne Arbeiter allein zu Hause auf eigene Rechnung Spezialartikel herstellten.
Ja, noch nie war es in Gehlberg so stürmisch vorangegangen! Noch nie zuvor war man aber auch so blind gewesen. In der Zeit der Sozialistengesetze hatten sich die Arbeiter mit den gesellschaftlichen Verhältnissen auseinandergesetzt, waren kritisch und kämpferisch gewesen. Nun aber fanden sich manche von ihnen mit dem Kapitalismus jener Zeit nicht nur ab, sondern machten seine Grundsätze zu ihren eigenen. Sie strebten nach Wohlstand und manche kamen dabei voran. Die neue Produktion in Gehlberg war lohnintensiv. Einige Spezialisten verdienten so gut, dass sie es nicht nötig hatten, die tägliche Arbeitszeit voll auszunutzen, um ihren Lebensunterhalt zu verdienen. Sie erschienen nicht pünktlich zur Arbeit oder gingen gelegentlich schon vor Betriebsschluss nach Hause. Trotz des relativ hohen Lebensstandards der Spezialisten überwogen die krassen sozialen Unterschiede. Sie wurden aber übertüncht durch den Hurra-Patriotismus des wilhelminischen Kaiserreiches. Die ursprünglich kämpferische Sozialdemokratie begann zu verspießern. Die Voraussetzungen hierfür waren allerdings sehr günstig. Preußen hatte die Kriege von 1864 und 1866, Deutschland unter preußischer Führung den Krieg von 1870/71 gewonnen. Das zweite Kaiserreich war gegründet, Kolonien erworben worden. Der berechtigte Stolz auf die eigenen Leistungen artete in Nationalismus aus. Gedankenlos sangen die Menschen – voran das Bürgertum – bei den Sedan-Feiern: „Siegreich woll`n wir Frankreich schlagen!“
Es gab immer neue Anlässe zur Anfeuerung nationaler Überheblichkeit. Als am 22. Mai 1913 das Zeppelin-Luftschiff Gehlberg überflog, waren es nicht nur Kinder, die versuchten, hinter dem „Wunderwerk deutscher Technik“ herzulaufen. Am schlimmsten war die war die Verherrlichung der „schimmernden Wehr“. Man musste gedient haben (Soldat gewesen sein), wenn man gelten wollte. Es gab junge Leute, die zwar innerlich froh waren, dass sie für den Militärdienst körperlich als untauglich befunden wurden, sich aber trotzdem schämten, nicht in der Armee gewesen zu sein. Was verbarg sich hinter dem farbenprächtigen Bild der Armee des Kaiserreiches? Ein Train-Soldat galt nicht viel mehr als ein „Ungedienter“. Etwas höher wurden Infanterie- und Fußartillerieregimenter bewertet. Ihnen folgten die Kavallerie-Einheiten. In all diesen Truppenteilen gab es Offiziere aus dem „Bürgerstand“. Die höheren Chargen der Garde-Regimenter, besonders der Garde-Kavallerie (Kürassiere und Ulanen), waren den Abkömmlingen „besserer“ Familien vorbehalten. Währen der „gemeine“ Soldat kaserniert war, durften die Einjährig-Freiwilligen in Privatquartieren wohnen. Über den Drill und die in vielen Dingen unwürdige Behandlung der Soldaten ist viel geschrieben worden. Die Kaiserliche Armee war ein Machtinstrument der herrschenden Klasse, äußerlich farbenfroh und blitzblank, umgeben von einer Gloriole ethischer Begriffe, wie Treue, Mut, Heldentum und Ehre – innerlich aber starr, reaktionär, morsch und durchsetzt von einer verlogenen Moral.
Leider muss gesagt werden, dass der Militär-Kult die jungen Leute nach überstandener Dienstzeit nicht selten dazu veranlasste, die ausgestandenen Strapazen nicht nur zu vergessen, sondern aktiv an der Verherrlichung des Militarismus teilzunehmen. Ein Beispiel dafür war die für das kleine Walddorf völlig überflüssige Gründung eines zweiten Gesangvereins mit dem betont patriotischen Namen „Germania“ durch die Armee-Reservisten.
Als weiteres, uns heute geradezu lächerlich erscheinendes Beispiel mag das 40-jährige Jubiläum des Gehlberger Kriegervereins am 20.06.1913 gelten.
Abb. 070 Veteranen von 1870/71 |
In aller Frühe marschierte ein Spielmannszug mit Trommeln und Pfeifen durch das Dorf. Dann versammelten sich Teilnehmer und Angehörige in der Kirche. Es folgte der übliche Aufmarsch mit Blasmusik, vaterländischen Liedern und einer phrasenreichen Festansprache. Wie die meisten solcher Veranstaltungen endete auch diese im Bierdunst der Gastwirtschaften, nicht ohne einen vorherigen großen Zapfenstreich. Kurios mag uns heute erscheinen, dass es zwar einen Kriegerverein mit vielen Mitgliedern, jedoch nur zwei echte Gehlberger Teilnehmer des Krieges von 1870/71 gab. Alle anderen Marschierer des Festes waren im Platzpatronenrauch deutscher Kasernenhöfe „ergraute“ Biertischkrieger. Sie prahlten mit den Erlebnissen ihrer Dienstzeit und ahnten beim Absingen verlogener Lieder vom „schönen Heldentod“ nicht, dass dies alles eine kitschige Ouvertüre zu einer grausigen Tragödie werden sollte.