37. Die „Goldenen Zwanziger“ (1920 - 1932)

 

Gemäß DSGVO geänderter Text 
Diese Bezeichnung glorifiziert unberechtigterweise die Scheinblüte und deren Erscheinungsformen in der Zeit nach dem 1. Weltkrieg. Waren es in den Städten mehrere Branchen, die von dem hektischen Treiben der Kriegsgewinnler, Schieber, Spekulanten und Neureichen profitieren konnten, so blieb unser Glasbläserdorf von dem Talmiglanz jener Zeit völlig unberührt. Die wenigen Fabrikanten des Dorfes waren Nachkommen ehemaliger Glasmeister. Sie scheuten Unternehmungen mit unüberschaubaren Risiken, wie sie in jener Zeit häufig betrieben wurden. In dem Bestreben, nur sichere und übersichtliche Aufträge zu erledigen, wagten sie auch in solchen Fällen zu wenig, bei denen es sich um solide Geschäfte handelte. So schleppte sich das wirtschaftliche Leben in Gehlberg ohne bemerkenswerte Fortschritte dahin.

Der Mittelstand war in Gehlberg auf ganz wenige Branchen beschränkt, die zur Befriedigung der einfachsten Bedürfnisse der Menschen unabdingbar waren. Infolgedessen konnten sich seine Angehörigen auch in schlechten Zeiten über dem Existenzminimum halten.

Von den Arbeitern und Angestellten befand sich nur ein Teil in Arbeit und Brot. Der Rest war arbeitslos, bezog die karge Unterstützung und versuchte auf verschiedene Weise, die eigene Situation erträglich zu gestalten. Eine Möglichkeit hierzu boten die kleinen Gärten oder Felder – oft nur wenige Meter breite Streifen – die fast jede Familie besaß.

Auch kamen nach und nach wieder Erholungssuchende in den Ort, an die man Zimmer oder Kammern vermieten konnte, wenn die eigene Familie etwas zusammenrückte. Frauen und Kinder gingen in den Wald, um Beeren, Pilze und Fichtenzapfen zu sammeln. Wer einen Schein des Försters besaß, durfte sich Leseholz suchen. Natürlich wurden auch Dinge aus dem Wald geholt, von denen die Förster nichts wissen durften.

Zusammenfassend kann gesagt werden, dass alle Einwohner ohne eigenen Besitz an Produktionsmitteln sehr bescheiden leben mussten und wenig Grund zur Zufriedenheit hatten. Da die Löhne niedrig waren, kam es 1922 zu einem begrenzten Streik der Glasbläser. Sie riskierten aber nicht viel, um ihre Arbeitsplätze nicht zu verlieren. Die Glasmacher nahmen nicht am Streik teil.

Entsprechend der wirtschaftlichen Lage war die Bautätigkeit gering. Nur der Maler Otto Schulz stellte 1922 sein Haus (Bergstraße 24) fertig ⇒(EA074)Weltkugel, das unter Mithilfe der ganzen Familie entstanden war.

Das Jahr 1923 brachte die große Geldentwertung. Aus den gewissenhaft geführten Haushaltsbüchern hiesiger Einwohner kann man ersehen, dass z. B. am 27.10.1923 eine Fahrt nach Arnstadt 1.800.000.000 Mark kostete und am 23.11. für 5 Pfund Zucker 2.700.000.000.000 Mark bezahlt werden mussten. Eine Billion entsprach 1 Goldmark, 100 Milliarden waren 10 Pfennige, 10 Milliarden einen ganzen Pfennig wert! Es gehört keine große Phantasie dazu sich vorzustellen, welche verheerenden Folgen die Inflation für die einfachen Menschen hatte. Ende November war der Spuk endlich vorbei.

Die täglichen Kursänderungen während der Inflation hätten sich wahrscheinlich noch schlimmer auf die Bevölkerung ausgewirkt, wenn die Leute ihre Geldgeschäfte auswärts hätten abwickeln müssen. In dieser Hinsicht war es vorteilhaft, dass der Ort 1918 eine Zweigstelle der Gothaer Sparkasse erhalten hatte.

Im gleichen Jahr kam die Lehrerin Minna König aus Sondershausen für ein Jahr nach Gehlberg. Sie war nicht nur in ihrem Beruf außerordentlich tüchtig, sondern widmete sich während ihrer Freizeit der Arbeiterjugend und dem Arbeitergesangverein. Sensationell für die damalige Zeit war die Tatsache, dass sie als Frau einen Gesangverein dirigierte.

⇒(EA1923-001) Blick von der Übertalswand nach Gehlberg

1924 fand im Hotel [gemeint ist das "Daheim"; Anm. R. Schmidt ⇒(EA058)] die erste öffentliche Vorführung eines Rundfunkgerätes statt. Zahlreiche Neugierige hatten sich eingefunden. Außer einem reichhaltigen Repertoire an Pfeif- und Quietschtönen bekamen sie allerdings nicht viel zu hören.

Das Jahr 1925 brachte wieder politische Auseinandersetzungen wegen der Reichspräsidentenwahl. Gewählt wurde der Generalfeldmarschall Paul von Hindenburg. Damit stand an der Spitze der Republik ein Mann, der im Grunde seines Herzens Monarchist geblieben war. Seine Abstammung und Vergangenheit verbanden ihn mit konservativen und reaktionären Kreisen. Da er kaum politische Qualitäten besaß, folgte er willig den Einflüsterungen seiner Ratgeber. Ausschlaggebend für seine Wahl waren die Haltung der SPD und der Nimbus, mit dem ihn die Rechtsparteien als „Sieger von Tannenberg und Retter des Vaterlands“ umgeben hatten.

Die Ortsgruppe der USPD löste sich endgültig auf. Ihre letzten Mitglieder waren Max Heinz, Albert Wagner (der „Matthäi“), Otto Hartwig II, Franz Greiner I, August Greiner (der „Audutt“) und Albert Machalett (der „Bergschulz“).

In den nächsten Jahren erfolgte eine gewisse wirtschaftliche Konsolidierung, von der in Gehlberg hauptsächlich der Mittelstand profitierte. Der Fremdenverkehr nahm zu, Handel und Gewerbe hatten befriedigende Einnahmen. Wintersportenthusiasten aus Erfurt bauten die erste Skihütte unterhalb des Brandwegs.
⇒(EA1925-001) Blick vom Bettelmannskopf nach Gehlberg
1926 begannen langwierige Verhandlungen wegen des Anschlusses an das Elektrizitätsnetz. Bisher wurde das aus Gräfenroda herangeführte Gas nicht nur für die Glasbläserei „vor der Lampe“, sondern auch zur Straßen- und Wohnraumbeleuchtung verwendet. Allerdings gab es in Gehlberg bereits einige Aggregate zur Erzeugung von Strom. Die Hartwigsche Fabrik im Geragrund verfügte über 1 Wasserrad (12 PS), 1 Turbine (10 PS), 1 Dieselmotor (45 PS) und eine Dampflokomobile (45 PS). Sie erzeugte Gleichstrom 110 Volt für den Eigenbedarf und belieferte auch das Eichamt und die Firma Emil Fleischhauer mit Elektrizität. Außerdem besaßen noch kleinere Dynamos: Gehlberger Mühle (Turbine), Dornheim (Turbine) und Bergmann (Diesel), alle im Geragrund ⇒(EA075)Weltkugel.
Nun kam es zum Streit mit dem Gaswerk Gräfenroda, das auf die Einhaltung der mit ihm geschlossenen Verträge pochte. Die Gehlberger schossen zurück und monierten die angeblich zweitweise ungenügende Qualität des Gräfenrodaer Gases. Schließlich war man sich im Ort nicht darüber einig, woher man den elektrischen Strom beziehen wollte. Rebhahn, Gemeindevertretungsmitglied und Prokurist bei der Firma Heinrich Hartwig, führte einen erbitterten Kampf dafür, dass seine Firma Gehlberg mit Elektrizität beliefern sollte. Die Beamten des Kreises und die Ingenieure der Überlandzentrale machten geltend, dass staatliche Zuschüsse für den zweifellos nicht billigen Ausbau des Ortsnetzes nicht zu erwarten seien, wenn man den Strom von einer Privatfirma beziehen werde. Den Ausschlag gab schließlich, dass die Gemeinde von einer kontinuierlichen Stromversorgung durch die Hartwigsche Fabrik nicht überzeugt war, weil sich die Anzeichen mehrten, dass der Betrieb finanziell auf wackeligen Füßen stand. Deshalb trat Gehlberg zunächst in den REA (Reichsverband deutscher Elektrizitätsabnehmer) ein und entschied sich damit auch für eine Elektrizitätsversorgung durch die Zentrale. Damit hatte es allerdings noch eine Weile Zeit. Rebhahn hingegen versuchte vollendete Tatsachen zu schaffen, indem er die Hartwigsche Stromversorgung auch auf einige Wohnhäuser des Ortes ausdehnte.

⇒(EA1926-001) Tambour-Korbs
Die Kurverwaltung ließ die Wege am Bettelmannskopf, Steinigen Hügel und zum Haselbrunn ausbessern, Werbeanzeigen sowie eine Kurliste drucken und plante sogar den Bau eines Sonnenbades am Achsenhag. Die Zahl der Ruhebänke in der Ortsflur betrug bereits 56, weitere 20 sollten gebaut werden.

Sehr aktiv wirkten die Mitglieder des Thüringer Wald-Vereins (der die Aufgabe des ehem. Gehlberger Ortsverschönerungsvereins mit übernommen hatte) bei der Verschönerung Gehlbergs und seiner Umgebung mit. Vor dem Hotel „Daheim“ fanden regelmäßig Kurkonzerte des Blasorchesters statt. Ein Salonorchester von 6 Mann spielte allwöchentlich zu den „Réunions“ auf.

Am 10.7.1926 wurde der aus Geschwenda stammende Walter Eschrich an Stelle des bisherigen „Ausklinglers“ als vollbeschäftigter Gemeindediener angestellt. Außer seinem Dienst in der Gemeindeverwaltung übte er auch Wach- und Polizeifunktionen aus. Eschrich hatte vorher in der Firma Hartwig im Geragrund gearbeitet.

Abb. 073
Gemeindediener W. Eschrich mit dem Sprengwagen 1930
⇒(EA076)WeltkugelFoto
 
1927 baute Rudolf Schmidt, auch „Schuster“ oder „Helerü“ genannt, das Haus Hauptstraße 47 ⇒(EA068)WeltkugelFoto und richtete darin eine Bäckerei ein, die sein Sohn Walter betrieb. Als auch sein Schwiegersohn W. Bauß, der 12 Jahre bei der Kriegsmarine gedient hatte, in den Ort kam, beantragte Schmidt die Konzession zur Eröffnung eines Cafés. Das rief den Besitzer des bisher einzigen Unternehmens dieser Art, Leopold Kühn, auf den Plan. Durch seinen Rechtsanwalt informiert, traf er genau zu dem Zeitpunkt im Arnstädter Landratsamt ein, als dort über die Schmidtsche Konzession verhandelt wurde. Ergebnis: Der Schuster durfte zwar ein Café eröffnen, Kühn aber nun endlich auch alkoholische Getränke ausschenken.

⇒(EA1928-002) Blick vom Bettelmannskopf


Am 1. Januar 1928 machte sich der Sattler Albert Schmidt II, der bis dahin im Geschäft seines Schwiegervaters Seidenstricker gearbeitet hatte, im Haus Hauptstraße 31 selbständig. ⇒(EA077)Foto 

Der Gräfenrodaer Friseurmeister Waldemar Samulewitz ließ 8 Tage vor Ostern durch seinen Gehilfen Hugo Schenk in der Gehlberger Schmiede (Hauptstraße 12) ⇒(EA078)WeltkugelFoto eine Zweigstelle seines Geschäfts eröffnen. Am 25. Juli übernahm Schenk diese Friseurstube in eigene Regie.

Bisher hatte der Gräfenrodaer Lichtspielunternehmer Bonazza nur gelegentlich Filmvorführungen im Saal des Gasthauses „Herzog Alfred“ veranstaltet. Am 1. Mai 1929 begann der Besitzer des Hotels „Daheim“, Franz Heimbürger, mit regelmäßigen Filmveranstaltungen in seinem Saal. Den Vorführungsapparat bediente Oskar Schmidt (der „Usker“), später Hermann Hellmuth.

Im August 1928 eröffnete Albert Schmidt III, auch ein Sohn des „Schusters“, eine Fleischerei im Hause. Seine Frau Toni, eine Bauerntochter aus Wüllersleben, konnte mehr arbeiten, als man ihrem schlanken Körper zutraute und fand sich gut im Hause zurecht. ⇒(EA090)WeltkugelFoto

Die Auseinandersetzungen um den Anschluss Gehlbergs an das Überland-Stromnetz fanden ihren Abschluss. Die Firma Hartwig musste unter Strafandrohung einige Hausanschlüsse wieder beseitigen, die Rebhahn zusätzlich zu den Leitungen zum Eichamt und der Firma E. Fleischhauer hatte herstellen lassen. Hierdurch wurde für Gehlberg das Durcheinander verhindert, das sich in vielen anderen Orten durch die Strombelieferung aus privaten Firmen ergab.

Das Jahr 1929 brachte den Beginn der großen Weltwirtschaftskrise. Viele Menschen wurden arbeitslos. Einige Gehlberger, die etwas Geld gespart hatten oder Kredit erhielten, versuchten sich ihren Lebensunterhalt durch eigene Kleinunternehmen zu verdienen. So entstanden eine Reihe von Ein-Mann-Glasbläsereien und – durch den noch nicht zurück gegangenen Fremdenverkehr – auch Taxiunternehmen.
Den Anfang machte Fritz Volckhold* (Mühlweg 5) ⇒(EA079)Weltkugel mit einem alten „Whipped“-Personenkraftwagen. Später legte er sich ein modernes Fahrzeug zu. Auch seine Frau Anna chauffierte. Das Taxiunternehmen erlosch bei Kriegsbeginn 1939.
Den zweiten Betrieb dieser Art gründete Alfred Eichhorn (Ritterstraße 20) ⇒(EA080)Weltkugel mit einem „Chevrolet“. Auch dieses Unternehmen ging durch den Krieg wieder ein.

Abb. 069
30.Juni 1929: Weihe eines Krieger-Ehrenmals vor der Kirche
    Aus dem Festprogramm:
    Gesang: "Ein` feste Burg ist unser Gott ..."
    Chor: "Ehrenvoll ist er gefallen ..."
    Festpredigt, Enthüllung, Ehrenschießen ...
    Der Weltkrieg hatte die Allianz zwischen Kirche und Militär nicht zerstört.
⇒(EA081)Foto 

071 Festzug zur KircheAbb. 071
Festzug zur Kirche mit Offizieren des reaktionären "Stahlhelm"-Verbandes vor der Schillingschen Schleiferei (1945 durch Granaten zerstört)
⇒(EA082)WeltkugelFoto
⇒(Ergänzung 1929-001)  Einweihung des Kriegerdenkmals am 30. Juni 
 
Weihnachten 1929 gab es dann noch eine Sensation in Gehlberg. Der Ort wurde endlich an das elektrische Stromnetz angeschlossen. Der große Augenblick gestaltete sich besonders wirkungsvoll im Hotel „Daheim“. Alle Lampen flammten gleichzeitig auf. Prompt brannten auch die Sicherungen durch; es wurde stockfinster im Saal, bis man Kerzen gefunden und den Schaden wieder behoben hatte.
Ehe die Wirtschaftskrise begann, hatte der Zustrom von Erholungssuchenden und Wintersportlern nach Gehlberg ständig zugenommen. Während nach Oberhof hauptsächlich reiche Leute kamen, denen ein Ort nicht zu sagte, der weder Komfort noch Eleganz zu bieten hatte, tummelten sich in Gehlbergs Umgebung meistens einfache Menschen, die gern wanderten und Sport trieben. Unter diesen befanden sich allerdings auch einige, die sich zwar in Kleidung und kameradschaftlichen Benehmen in keiner Weise von anderen Touristen unterschieden, im beruflichen Leben aber hohe Stellungen innehatten.
Aus solchen Kreisen kamen nun zwei Projekte, die im Falle ihrer Realisierung die Entwicklung Gehlbergs zu einem Fremdenverkehrs- und Erholungsort wesentlich gefördert hätten.
Das erste Vorhaben war die Gründung einer Aktiengesellschaft zum Bau einer Baude auf dem Brand. Sie sollte nicht nur vielen Wintersportlern Aufenthalt und Verpflegung bieten können, sondern auch Übernachtungen nach Art der Jugendherbergen ermöglichen. Obwohl bereits Aktien ausgegeben waren, kam der Bau wegen der wirtschaftlichen Misere nicht zustande. 
Gewichtiger war das zweite Projekt. Gustav Räther, Vorstandsmitglied des deutschen Skiverbandes, war an der Vorbereitung der FIS-Wettkämpfe beteiligt. Da er als eifriger Wintersportler häufig nach Gehlberg kam und die Umgebung gut kannte, hielt er den Schneetiegel für einen günstigen Austragungsort. Vom Scheitel des Gebirges nordwärts abfallend ist das Gelände dort relativ schneesicher. Sowohl Sprungschanze, als auch Abfahrts- und Slalomstrecke glaubte Räther (durchaus berechtigt) mit geringem Aufwand auf der Schneekopfseite anlegen lassen zu können. Im unteren Teil sollten außer dem Eisstadion auch Unterkünfte für die Sportler und ein Sporthotel entstehen. Räther, Reichsbahnrat bei der Reichsbahndirektion in Erfurt, wollte außerdem dafür sorgen, dass ein Eisenbahngleis, von der Hauptstrecke abgezweigt, in sanfter Kurve in den Schneetiegel geführt würde, damit dort Bahnsteige für die Sport-Sonderzüge angelegt werden könnten. Obwohl die hiesigen Förster bereits Vorbereitungen für die notwendigen Rodungen trafen, kam es gar nicht bis zu einer konkreten Planung der Anlagen. Es ist nicht mehr festzustellen, woran das Projekt eigentlich scheiterte. Beschämend und bezeichnend zugleich jedoch ist die Tatsache, dass die Gehlberger Kommunalorgane sich in dieser Sache völlig passiv verhielten. Ihnen genügte es, dass der Ort eine kleine Sprungschanze am Brand besaß, die man in den kommenden Jahren noch erweitern wollte. Da sie keinen ordentlichen Auslauf besaß, konnte das aber nie zu einer befriedigenden Lösung führen. Außerdem hatten die Gemeindeväter andere Sorgen. Oberhof besaß keine Industrie. Sollte es sich also mit Wintersport und Wettkämpfen befassen. Gehlberg hingegen hatte zwei Glashütten und viele kleine Glasbläsereien, in denen es gar nicht gut aussah. Die Brüningschen Notverordnungen von 1930 halfen nichts. Die Gemeinde musste Notstandsarbeiten für Erwerbslose organisieren. Auch das Suchen nach neuen Erwerbsquellen hielt an. Otto Fleischhauer (Arlesberger Str. 1) ⇒(EA083)Weltkugel eröffnete mit einem „Brennabor“ ein Taxiunternehmen, das später von seinem Schwager Erich Günther weiter geführt wurde und bei Kriegsbeginn erlosch. Auch Edwin Ludwig und ein gewisser Odermatt führten zeitweise Taxifahrten aus.

Die politische Situation war wegen der schlechten Wirtschaftslage gespannt. Neben dem kontinuierlichen Anwachsen der KPD zeigte sich ein zunehmender Rechtsradikalismus. Diese Tendenz wurde bei den Wahlen vom 14.9.1930 offenbar, die der NSDAP einen sprunghaften Stimmenzuwachs brachte.

Die erwähnten internationalen FIS-Wettkämpfe wurden also in Oberhof ausgetragen. Direktor Krauß von der Erfurter Filiale der „Dresdner Bank“ (später Staatsratsmitglied der DDR und in Gehlberg Besitzer des Hauses „Berg-Heil“, Hauptstraße 6) ⇒(EA084)Weltkugel, ein begeisterter Thüringer-Wald-Freund und Wintersportler, beschaffte den erforderlichen Kredit.
Die Veranstaltung wurde nicht nur ein sportlicher Erfolg – Birger Ruud sprang auf der damals noch kleinen Oberhofer Schanze erstmals 61 Meter –, sondern brachte auch noch einen kleinen finanziellen Überschuss. Krauß sorgte dafür, dass von dem Gewinn an der Nordseite des Schneekopfes der erste Steilhang für Ski-Abfahrten in Thüringen angelegt wurde. Leider reichten die Mittel nicht aus, um die Strecke bis hinab in das Tal ausbauen zu können.⇒(EA121)Foto Abfahrtsstrecke in den Schneetiegel

Die Angehörigen des Erfurter Sportvereins, die regelmäßig zum Wintersport nach Gehlberg kamen, waren nicht mehr damit zufrieden, dass die Einnahmen ihrer Organisation ausschließlich für Bauten und Veranstaltungen der „Sommersportler“ verwendet wurden. Deshalb gründete sich eine eigene „Erfurter Skizunft“. Nunmehr konnten sie ihre Mitgliedsbeiträge für den Bau einer Skihütte in Gehlberg aufsparen. Für den Anfang begnügten sie sich jedoch mit einer kleinen Köhlerhütte. Sie stand bei der Pferdetränke am Planieweg. Kurt Scheidt erwarb sie für 10 Mark von den bisherigen Köhlern Max Gering und Frieder Schmidt. Einige Jahre später ließ sie die Forstverwaltung abreißen. Nun baute die Erfurter Skizunft dort die heute noch existierende „Erfurter Skihütte“. ⇒(EA2021-002)Foto

Abb. 072
Frieder Schmidt köhlt
 
Der Nationalsozialismus gewann durch die wirtschaftliche Misere immer mehr Anhänger. 1931 entstand auch in Gehlberg eine kleine Ortsgruppe der NSDAP. Ihr erster Leiter war Oswald H.. In Thüringen wurde der Nationalsozialist Frick Volksbildungsminister.
Die Notstandsarbeiten der Gemeinde wurden fortgesetzt. Die Erwerbslosen mussten außerdem regelmäßig zum „Stempeln“ erscheinen. Die Auszahlung der geringen Arbeitslosenunterstützung erfolgte zeitweise in Gräfenroda (!), dann aber am Hause des neuen Bürgermeisters Edmund Wiegand (Mühlweg). Wiegand hatte zu diesem Zweck ein Türchen in seinem Gartenzaun anbringen lassen, damit die Arbeitslosen von der Straße aus direkt zum Auszahlungsfenster gelangen konnten. Später zahlte der Gemeindekassierer Kühn die Unterstützung in seinem Hause aus.

Noch erschien es dem Elektriker und Brennholzschneider Karl Volckhold* lohnenswert, vor seinem Haus (Hauptstraße 16) [Volckhold müsste in Hausnummer 22 gewohnt haben./Anm.: R. Schmidt] ⇒(EA085)WeltkugelFoto eine Tankstelle für Touristenfahrzeuge und die hiesigen Taxis zu eröffnen. Der Fremdenverkehr ging jedoch nunmehr rapide zurück. Deshalb konnte die Kurverwaltung 1931 keine Werbeprospekte mehr drucken lassen und gab auch keine Inserate mehr in den großen Tageszeitungen Deutschlands auf. Die Kurkonzerte mussten auch eingestellt werden, weil die „Gema“ (Verband zum Schutze musikalischer Aufführungsrechte) plötzlich mit einer Forderung von 120,-- RM auftrat. Man umging diese Zahlung schließlich, indem man aus dem Repertoire alle Stücke strich, die nicht urheberrechtsfrei waren und konnte auf diese Weise ab und zu Konzerte mit sehr antiquierten Melodien stattfinden lassen.
1932 wurde der damals schon über 84jährige Hindenburg durch die Stimmen der SPD wieder zum Reichspräsidenten gewählt. In Thüringen wurde der NSDAP-Gauleiter Fritz Sauckel Ministerpräsident. (nach dem Kriege als Kriegsverbrecher hingerichtet)

Abb. 080
Turnfest auf dem Sportplatz am "Steinigen Hügel" 1932 
  
Am 1.6. löste der stockkonservative Franz von Papen den Reichskanzler Brüning ab. Er setzte die SPD-Regierung Braun-Severing in Preußen ab, hob das Verbot der nationalsozialistischen Strumabteilung (SA) auf und ebnete später Hitler den Weg zur Macht. Die endgültige Streichung der deutschen Reparationsleistungen durch das Lausanner Abkommen vom 9. Juli 1932 änderte die Auswirkungen der Krise vorerst ebenso wenig wie der vorangegangene Hooverplan; das Massenelend nahm noch immer nicht ab. In Gehlberg lagen seit dem Frühjahr beide Glashütten still. Die Notstandsarbeiten Wegebau „Rund um den Brand“, „Rund um den Gabelbachskopf“, „Felsenschlag“ und die Rodelandgewinnung am Brand (Brandswiese) reichten für die vielen Arbeitslosen nicht mehr aus. Deshalb wurde eine neue Baustelle begonnen: das Waldbad im Haselbrunn. Einige Wochen (August 1932) beteiligte sich an den dortigen Ausschachtungsarbeiten auch eine kleine Gruppe des sogen. „freiwilligen Arbeitsdienstes“.

076 NotstandsarbeitenAbb. 076
Bau des Waldbads … 

077 Waldbadbau WinterAbb. 077
... auch bei -20°C 
Der Drogist Kurt Scheidt gehörte zu den Freunden des Rennsteiggebietes, die regelmäßig zu Wanderungen und zum Wintersport von Erfurt nach Gehlberg kamen. 1932 eröffnete er in einer Stube des Karl Volckhold eine Drogerie ⇒(EA086)WeltkugelFoto. Scheidt, wurde hier ansässig und machte sich im Laufe der Jahre sehr verdient um die Förderung des Wintersports, Anlage und Markierung von Wanderwegen, Ortsverschönerungen usw.

Auch hinsichtlich der „Verschönerung der Menschen“ gab es 1932 eine Änderung. Seit 22 Jahren hatten die Gehlberger beim Louis Wagner ihre „Haare gelassen“. Er war 1910 aus Oberhof gekommen und hatte sein Handwerk in einem Zimmer des Hauses Schulstraße 4 ausgeübt. In der Kur-Zeitung annoncierte er damals außer Haarpflege und Hühneraugenoperationen auch schmerzloses Zahnziehen, obwohl er als Laie keine Betäubungsmittel dabei anwenden durfte. 1911 arbeitete Louis vorübergehend in Geraberg, kehrte aber schon 1912 zurück und betrieb sein Geschäft zunächst in der Ritterstraße 26, dann in der „Gass“ (10) und ab 1926 in der Nordstraße 6. Nun (1932) verlegte er seine Friseurstube in das Haus Hauptstraße 33 ⇒(EA087)Weltkugel.

Der Friseur Hugo Schenk, der sein Gewerbe bisher in der Schmiede betrieben hatte, zog ebenfalls 1932 in das Haus Hauptstraße 34 ⇒(EA088)WeltkugelFoto. Folglich lagen sich beide Friseurgeschäfte Gehlbergs genau gegenüber und machten sich gegenseitig Konkurrenz.

Gegen Ende des Jahres, am 6. November, gab es wieder Wahlen und damit auch die üblichen Auseinandersetzungen zwischen den politisch engagierten Männern, besonders den Arbeitslosen, unter denen sich schon eine Anzahl NSDAP-Anhänger befanden. Das Wahlergebnis (im Reichsgebiet) trug sehr zur Verminderung der Spannungen bei; die SPD-Stimmen sanken weiter ab, die KPD stieg von 89 auf 100 Sitze, die NSDAP fiel von 230 auf 196 Mandate zurück!

Ergänzend sei angemerkt, dass Gehlberg damals über eine beträchtliche Anzahl ausgezeichneter Wintersportler verfügte, die sich bei Wettkämpfen durchaus sehen lassen konnten. Zu ihnen zählten u. a. die Langläufer Alfred Bergmann, Arthur Fleischhauer ⇒(Ergänzung1934-002)Buch, Alfred Lutz, Ludwig und Philipp Schleicher. Zu guten Skispringern entwickelten sich in den folgenden Jahren u. a. Fritz Bergmann und der später international bekannt gewordene Rudi Gering
⇒(EA089)Buch
⇒(Ergänzung1917-001)Buch 1917–1998 Rudi Gering
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* (Anmerkung durch Reinhard Schmidt: Fritz und Karl Volckhold waren Brüder. Die Schreibung ihres Familiennamens war nicht immer gleich. Sie reichte von "Volckhold", "Vollgold" bis "Volkhold". Letztendlich die Berufsbewerbung von Karl Volckhold Junior [Sohn des Karl Volckhold] führte dazu, dass amtlicherseits eine Vereinheitlichung verfügt wurde. Es sollte nur noch die Schreibweise Verwendung finden, welche nachweislich über 3 Generationen gleich war. Und so wurde aus "Vollgold" und "Volkhold" schließlich "Volckhold". [Quelle: Manfred Volckhold]) 
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